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Durch die Schatten fallen

Die Henry-Fool-Trilogie

Von Tom McSorley

Wer so stürzte, der stand niemals auf sicherem Fuß.

Boethius. Der Trost der Philosophie. 

It’s coming to America first,
the cradle of the best and of the worst.
It’s here they got the range
and the machinery for change
and it’s here they got the spiritual thirst.
It’s here the family’s broken
and it’s here the lonely say
that the heart has got to open
in a fundamental way:
Democracy is coming to the U.S.A.

Leonard Cohen, «Democracy»

(Als erstes erreicht sie Amerika,
die Wiege des Besten und Schlechtesten.
Hier verfügen sieüberdie Reichweite,
unddie Maschinerie zur Veränderung,
und hier haben sie die spirituelle Sehnsucht.
Hier sind die Familien zerbrochen,
und hier sagen die Einsamen,
dass das Herz sich öffnen muss,
auf grundlegende Art und Weise:
Die Demokratie erreicht die USA. 
Leonard Cohen, “Demokratie)

Zwei Jahrzehnte ist es her, dass ein seltsamer, einsamer New Yorker Müllmann namens Simon Grim sich bückte und seinen Kopf auf den Boden legte. Was er sah oder vielleicht als entferntes Donnern vernahm, war ein sich näherndes, tosendes Mysterium namens Henry Fool, der wie ein epistemologischer Tsunami in sein Leben trat. Als Henry mit seinem Gepäck und seinen Büchern in Erscheinung tritt, verändert dies Simons stille und - für den Moment - beschränkte Welt.

Seit der Veröffentlichung des ersten Teils der Henry-Fool-Trilogie (1997) haben sich sowohl Hal Hartleys exzentrische, seltsam unverwüstliche “Kino-Familie“ Grim, sowie seine Vereinigten Staaten von Amerika drastisch verändert. Fast zwei Jahrzehnte umfassend (1997-2015), ist die Henry-Fool-Trilogie ein deutliches, vorausschauendes, amüsantes und mitreißendes Triptychon eines turbulenten amerikanischen Zeitgeistes. Intim und ausschweifend wirft die Trilogie Licht auf das Leben der Charaktere und der sich ausbreitenden Schatten Amerikas im 21. Jahrhunderts. 

In Hartleys früheren Arbeiten waren die Schatten auch präsent, jedoch aufgehellt durch die originellen und bestechenden Liebesgeschichten seiner ersten drei Filme, der so genannten „Long Island Trilogy“: The Unbelievable Truth (1989), Trust (1990), und Simple Men (1992). Immer engagiert und formal mutig untersuchen die Filme Hartleys in dieser Schaffensperiode den zunehmenden vulgären Materialismus der amerikanischen Gesellschaft und ihre Abkehr von ihren Gründungsidealen. Sie zeigen diese Spannungen im Leben und Lieben unkonventioneller und entfremdeter Charaktere, welche sich ständig – und oft auf amüsante Art und Weise – auf der Suche nach einem Sinn und irgendeiner Art von - egal wie unvollkommener - spiritueller Nahrung befinden. Diese frühen Arbeiten befassen sich mit den paradoxenElementen Amerikas, Freiheit und Unterdrückung, Genialität und Versagen, und dem zwar wahrgenommenem, aber noch nicht eingestandenem Zustand des Verfalls. 

Die Schatten verstärken sich sich in Amateur (1994) der vielerlei Hinsicht ein Film des Übergangs ist, und die düsteren Klänge der Henry-Fool-Trilogie vorwegnimmt. An diesem Punkt seiner Karriere zeigt sich auch Hartleys zunehmend internationalere Erzählweise und Produktionsart (beispielsweise durch die Besetzung der legendären französischen Schauspielerin Isabelle Huppert) mit Geschichten, die über dasNew Yorker Milieu hinausreichen, wie bei Flirt (1996) zu sehen sein wird.

In Amateur dreht sich alles um Thomas, ein Mann, der sein Gedächtnis und seine Identität verloren hat, ein Mann, der ein gewalttätiger Verbrecher sein könnte, der von der Polizei und seiner eigenen Vergangenheit verfolgt wird – oder auch nicht. Die narrative Unsicherheit von Amateur erstreckt sich bis auf das Wesen des Wissen selbst. So wird Thomas mit der unorthodoxen Hilfe einer ehemaligen Nonne, die nun Autorin für Pornographie ist (Huppert), erkennen, dass jemand, dessen Leben in solch einer Art und Weise zugrunde ging, vermutlich niemals auf festen Füßen stand. 

Das ist eine Lektion, die sowohl die Grenzen, als auch die Möglichkeiten der Protagonisten in der ausufernden, transatlantischen Erzählung der Henry-Fool-Trilogie zeigt. Simon Grim, Fay Grim und schliesslich und besonders Ned Rifle (unter Verwendung des Mädchennamen seiner Großmutter) bewegen sich von Unschuld hin zu Erfahrung und -positiv gesehen- zurück zu einer Unschuld, aber nun besser informiert und aufrichtiger, beständiger und produktiver. Aber natürlich dreht sich in der Trilogie alles um Henry Fool, egal, ob er auf dem Leinwand zu sehen ist oder nicht. 

Einer von Hartleys am deutlichsten gezeichneten Charaktere, Henry, ist teils Miltons verführerischer Lucifer, teils byron'scher Satyr, teils Antiheld wie bei Bukowski, teils G. Gordon Liddy und teils ein schäbiger Supermanà la Nietzsche. Seine unermüdliche Energie und Lust sind nur vergleichbar mit seinen seltsamen, verführerischen sprachlichen Ausbrüchen. Kurz nach seiner Ankunft und nachdem er sich in einer Kellerwohnung im Familienhaus der Grims eingerichtet hat, erzählt Henry dem faszinierten Simon von seinenacht handgeschriebenen Notizbücher: „Es ist eine Philosophie, Poesie, Politik, wenn du so willst: eine Literatur des Protests, ein Roman der Ideen, ein pornographisches Magazin mit den Ausmassen eines Comics. Es wird ein Loch direkt in die Idee der Welt von sich selbst reißen“. 

Während sich herausstellen wird, dass Henrys Notizbücher alles und nichts des oben Genannten sind, werden deren bloße Existenz zu einem Katalysator erdbebenartiger Veränderungen im Leben der Familie, in die er hineingeplatzt ist. Tatsächlich ist Henry selbst ein katalysierender Charakter, ein wortreich wirbelnder Derwisch des Bewusstseins und der Konsequenz. Sowie Thomas aus Amateur ist auch er ein Gefallener. Er spricht über seine Vergangenheit und davon, dass er Sex mit einem dreizehnjährigen Mädchen namens Susan gehabt hat, und dass er für dieses Vergehen sieben Jahre im Gefängnis verbracht hat. Aber Henry gibt auch andere Details seiner geheimnisvollen und dunklen Vergangenheit preis. Im Laufe der Trilogie erkennen wir den Umfang und Tiefe dieser Geschichte, in der nicht nur die Grim-Familieund die nun erwachsene Susan eine Rolle spielen, sondern auch die Vereinigten Staaten von Amerika selbst.

Alle drei Filme, zusammen genommen, repräsentieren ein dichtes, eng gewobenes existentielles Drama, eine absurde Komödie, politische Beobachtungen und Kulturkritik in einem. Alle diese Ebenen laufen – jenseits des faszinierenden Familiendramas rund um die Grims und Fools – auf ein scharfsinniges, kritisches und mitfühlendes Porträt der zeitgenössischen Amerikas hinaus. 

Der mexikanische Poet Octavio Paz beobachtete irgendwann, dass seine benachbarte nördliche Republik sich über den Zeitraum von zweieinhalb Jahrhunderten von einer Demokratie zu einem Weltreich entwickelt hatte. Hartleys Trilogie zeigt diesen Wandel in den gelebten Realitäten der Einwohner dieses Amerikas: von Fays anfänglicher, auf die Vertrauenswürdigkeit der Regierung bezogener, Naivität, über die zarte Kritik Simons, über den Zynismus des weltverdrossenen Agenten Fulbright, bis schliesslich hin zu einer möglichen Hoffnung verkörpert durch Figur Neds. Während sich Hartley nicht mit dieser größeren, geschichtlichen Dimension aufhält, nimmt er sie wahr und zeigt anschaulich ihre verschiedene Realitäten und die daraus resultierenden persönlichen und politischen Manifestationen im Leben all seiner Charaktere. 

Es gibt einen entscheidenen Moment bei Fay Grim, der die vielschichtigen Erforschungen erkenntnistheoretischer Unsicherheit der Henry Fool Trilogie zusammenführt. In Übereinstimmung mit Hartleys ausgeprägt amerikanischer Art des Globalismus geschieht dies weit entfernt von den Vereinigten Staaten. Als Fay den Laden in Istanbul besucht, in dem Henry den mysteriösen Filmbetrachter kaufte, den er ihrem Sohn schickte, erzählt ihr der blinde Ladenbesitzer von der Bedeutung des in den Orgien-Szenen auftretendem „Harem Fool". 

Die Aufgabe des Fools -des Narren- bestand darin, dem Sultan Geschichten zu erzählen, um ihn bei Laune zu halten. Versagte man hierbei, bedeutete das den Tod. Wie Scheherazade spinnt der Harem Fool phantastische Garne und bewegt sich in der gefährlichen Gesellschaft der Mächtigen. Er erweckt neue Geschichten zum Leben, während er alte wiedererzählt und erfindet die Welt phantasievoll neu, um zu überleben. Das ist die Figur des Henry Fool, und in seiner Gesamtheit auch die Henry-Fool-Trilogie. In vielerlei Hinsicht aber auch Hal Hartley als einfallsreicher und erfinderischer, zeitgenössischer Geschichtenerzähler. Die aufschlussreichen und intelligenten Filme dieser Trilogie beleuchteten nicht nur Amerika als „die Wiege des Besten und Schlechtesten“, sondern erinnern uns vielleicht auch daran, dass gefallen zu sein, in welchem Sinne auch immer, immer auch eine Chance ist, zu erkennen und sich bewusst zu werden, dass man niemals wirklich auf sicheren Füßen stand. Dies ist ein entscheidender Punkt für das Verständnis der Trilogie. In Henry Fool muss Simon schliesslich akzeptieren, dass sein Mentor, trotz seines beachtlichen und chaotischen Charmes, ein Schwindler sein könnte. In Fay Grim erlangt die wohlwollende, aber unwissende Fay die Erkenntnis, dass Mitglieder der Regierung, die Verteidiger von Recht und Ordnung – ungeachtet welcherNation–, alle beschränkte und betrügerische Karrieristen sind. In Ned Rifle muss Ned sich am Ende eingestehen, dass seine übernommene christliche Überzeugung über die Verdammten und die Erlösten irrelevant ist. Zu einem solches Bewusstsein gelangt, und ein offenes Herz vorausgesetzt, entdeckt man einen Ort, für einen neuen Anfang und neue Möglichkeiten. Wie im Finale von Ned Rifle zu sehen, bedeutet sich Auflehnen gegen schreckliche Umstände -sich ihnen zu stellen- und, wie Ned es mutig tut, der Beschluss nicht wegzulaufen, den Beginn einer Transformation dieser besonderen amerikanischen „spirituellen Sehnsucht“ zu einer neuen Kraft, die eine zwar schwer fassbare, aber unbedingt notwendige „Maschinerie zur Veränderung“ antreibt. 

Tom McSorley ist Geschäftsführer des kanadisches Filminstituts in Ottawa, Kanada